Hermann Bausinger … Große Idee – kleine Anfänge

Hermann Bausinger beschreibt am Beispiel der Ortsgruppe Tübingen das historisch und sozial Typische an den Naturfreunden und verfolgt über die letzten hundert Jahre weg, wie aus kleinen Anfängen die Naturfreunde-Idee nachhaltig wirksam blieb.

Auf Veranlassung einiger Wanderfreunde fand am Donnerstag, 11. September 1913 in der Lenzei eine Versammlung statt, in welcher der Gauobmann für den Gau Württemberg des Touristenvereins ‚Die Naturfreunde’ ein Referat hielt über: Zweck und Ziel des Touristenvereins ‚Die Naturfreunde’. Der Referent war seiner Aufgabe voll gewachsen und führte den Anwesenden die Reize des Wanderns in den lebhaftesten Farben vor, was zur Folge hatte, dass sich sofort eine Anzahl der Anwesenden zur Gründung einer Ortsgruppe bereit fanden.“[1]

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So hat der erste Schriftführer des Vereins [der Tübinger Naturfreunde], Gustav Rall, die Gründung des Vereins dokumentiert, die jetzt ein Jahrhundert zurück liegt. Es sind 15 Männer, die dem Verein beitreten; sieben davon werden in die Ortsgruppenleitung gewählt: Obmann, Schriftführer, Kassier, zwei Beisitzer und zwei Kontrolleure. Ein kleiner Kreis also, aber schon 14 Tage später bei der zweiten Versammlung sind 17 Mitglieder anwesend und außerdem 2 Gäste und 2 Damen (was im damaligen Vereinsleben noch ungewöhnlich war); und in den wenigen Monaten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wuchs die Zahl der Mitglieder auf 40.

Der Verein konsolidiert sich nicht nur schnell, was den Zuspruch der Mitglieder angeht, er nimmt auch sofort Fahrt auf in seinen Aktivitäten. Schon für Anfang November 1913 wird ein erster Familienabend geplant: „Es soll dazu ein Klavierspieler bestellt werden. Die Mitglieder Reinhard und Schmid sowie Reckziegel und Moritz übernehmen in anerkennenswerter Weise Programmstücke in Komik und Gesang, ferner hält Genosse Habert einen Vortrag über ‚Das Winterleben der Pflanzen’. Vorsitzender Karle wird Lichtbilder vorführen.“ Solche Großveranstaltungen sind und bleiben die Ausnahme; aber auch die regulären Monatsversammlungen und Ausschuss-Sitzungen sind auf Aktivitäten ausgerichtet. Die Tagesordnung bleibt dabei auf Jahre hinaus gleich: 1. Eingänge, 2. Programm, 3. Verschiedenes. Unter dem ersten Punkt werden Informationen des übergeordneten Verbands und anderer Vereine verlesen, während des Kriegs auch Feldpost der eingerückten Mitglieder. Der Punkt Verschiedenes bringt selten wichtige Neuigkeiten und wird rasch abgehandelt, zumal man gelegentlich dann zum Gemütlichen Teil übergeht. Im Mittelpunkt der Treffen steht die monatliche Planung des Tourenprogramms, das von Anfang an einen beachtlichen Umfang hat: An jedem Sonntag ist man unterwegs, zweimal halbtags und zweimal den ganzen Tag; für jede

* Der vorliegende Text erschien zuerst in Evamarie Blattner / Wiebke Ratzeburg (Hrsg.). Natur: Hier bin ich Mensch, hier will ich sein. 100 Jahre Naturfreunde Tübingen. Tübingen: Stadtmuseum Tübingen, 2013. 11-17. Er ist hier abgedruckt mit Genehmigung des Autors und der Herausgeber. Für eine Rezension des Bands vgl. den Besprechungsteil dieser Nummer von NaturFreundegeschichte/NatureFriendsHistory.

Wanderung werden Ziele und Wege genau festgelegt und wird ein Führer bestimmt. Im Krieg und in den Notzeiten der Nachkriegszeit kommt es zu Einschränkungen; aber auch da wendet man sich in den Versammlungen gegen das Privattourenmachen, und neue Mitglieder werden erst aufgenommen, wenn sie zwei Pflichtwanderungen absolviert haben.[2]

Die Naturfreunde – eine organisierte Wandergruppe, ein Touristenverein. Die Begeisterung für das Wandern in Gruppen ging Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts quer durch die Gesellschaft, und in gewisser Weise reiht sich die Organisation der Naturfreunde ein in diese umfassende Bewegung. Wer die Vereinsprotokolle, die Tourenschilderungen und die Berichte von besonderen Veranstaltungen liest, entdeckt viele Parallelen zu den bürgerlichen Wandervereinen. Das gilt schon für die Anfänge der Organisation, die 1895 in Wien über einen Zeitungsaufruf gegründet wurde und die sich zunächst fast nur in Österreich ausbreitete. Blättert man in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift „Der Naturfreund“, präsentieren sich in jeder Nummer hochalpine Gipfel, manchmal mit einzelnen Bergsteigern, die so ihre Rekorde und manchmal auch ihr Scheitern dokumentieren – ganz ähnlich wie im Alpenverein, der ja auch mit seinen Berghäusern den Naturfreundehäusern vorausging.

Der Gruß der Naturfreunde: Berg frei! – in schwungvoller Schrift steht er auf dem Vorsatzblatt des ersten Tübinger Protokollbuchs – erinnert an den alpinen Ursprung; doch zur Tübinger Sektion des Alpenvereins (sie existierte seit 1891) gab es bei den Naturfreunden keine Verbindung. Die Wanderziele blieben zunächst ganz in der engeren Region. Aber auch die Mittelgebirgsvereine existierten schon – der Schwäbische Albverein war bereits eine sehr erfolgreiche Wanderorganisation, die rundum die Höhen erschlossen und vereinzelt mit Aussichtstürmen ausgestattet hatte; knapp drei Wochen nach der Gründung der Tübinger Naturfreunde zogen beispielsweise Hunderte auf den Rossberg, um dort oben die Einweihung des Turms zu feiern.

Es ist historisch korrekt, und es ist auch keine Abwertung, wenn die Aktionen der Naturfreunde mit denen der bürgerlichen Wandervereine verglichen werden. Um die Liebe zur freien Natur und um sinnvolle Freizeitgestaltung ging es hier wie dort. Aber man darf nicht stehen bleiben bei der pauschalen Formel Verbürgerlichung, die Unterschiede und Spannungen ignoriert und den später gängigen Harmoniebegriffen zuarbeitet – der im Nationalsozialismus propagierten Volksgemeinschaft oder auch der nach dem Zweiten Weltkrieg anvisierten Formierten Gesellschaft. Es gab ja doch krasse Unterschiede, und vor allem war die Ausgangslage für die proletarischen Touristenvereine eine völlig andere. Die Parallelen treten hervor, weil diese Vereine von Anfang an und ständig bemüht waren um respektable Formen der Lebensweise und Geselligkeit; sie investierten Zeit und Kraft in die Planung

und Verwirklichung positiver Erfahrungen und Erlebnisse und mieden nach Möglichkeit Konflikte mit

denen, die am längeren Hebel saßen. In den Berichten und in den Aufsätzen der Zeitschriften kommt dies zum Ausdruck. Ganz überwiegend wird hier erzählt von den eigenen Anstrengungen und Erfolgen, von kleinen und großen Wanderungen, von kulturellen Aktivitäten – Instrumentalmusik, Gesang, Tanz, Theater – wie von wissenschaftlichen Vorträgen und Exkursionen.

Aber in vereinzelten kurzen Notizen – buchstäblich im Kleingedruckten – wird dann doch deutlich, dass es Auseinandersetzungen gab, dass immer wieder Hindernisse zu überwinden waren und dass man sich wehren musste. So wird in den frühen Zeitschriften häufig das Thema Verbotene Wege aufgegriffen. Mit Rücksicht auf Privatbesitz und Jagdrecht in den Wäldern verweigerte man den Wandergruppen den Zugang – aus konkretem Anlass wird das immer wieder moniert und manchmal auch grundsätzlicher behandelt: Wie Ruinen des grauen Mittelalters ragen unsere veralteten Gesetzesbestimmungen in unsere moderne Zeit. Diese Zeit, die erfüllt ist von dem demokratischen Gedanken, dass alle Menschen an den Schönheiten der Natur ein heiliges Anrecht haben, kann es nicht fassen, dass man dem Wanderer nur die Landstraße lassen will und dass rechts davon der Prinz X. und links davon der Fürst Y. ganze weitausgedehnte Ländereien so behandeln, als wären es ihre Privatgemächer.[3] In solchen Äußerungen wird deutlich, dass es nicht nur ums ungestörte Wandern ging, sondern um eine neue, gerechtere Ordnung der Gesellschaft. Dieses Fernziel war auch für die Tübinger Naturfreunde gegenwärtig, und in der parteipolitischen Auseinandersetzung um die Fürstenenteignung im Jahr 1926 nahmen sie aktiv an der Kampagne teil, indem sie auf dem Land agitierten und Flugblätter verteilten.[4]

In den wohlhabenden Schichten wurden die Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiter zu kämpfen hatten, oft ignoriert oder auch heruntergespielt. Es gehe denen doch offenbar gar nicht so schlecht, konnte man lesen, nachdem sie Ausflüge unternehmen und sogar besondere Häuser kaufen oder bauen.[5] Tatsächlich war der Bau der Rohrauer Hütte, an dem die Tübinger beteiligt waren, eine gewaltige Anstrengung, da die mittellosen Naturfreunde teures Land erwerben mussten, da ihnen mit bürokratischen Mitteln Steine in den Weg gelegt wurden und da sie vom Klopfen der wirklichen Steine bis zur Installation alles in die eigene Hand nahmen.[6]

Die Schwierigkeiten haben aber – das geht aus den alten Aufzeichnungen hervor – meistens nicht als Bremse gewirkt, sondern als Ansporn. Dass man trotzdem machte, was man für richtig und wichtig hielt, war ein wesentliches Motiv. Man wollte zeigen: Wir können das auch! Und auf einigen Feldern galt die Steigerung: Wir können das besser! Eine lückenlose Erfolgsbilanz vermittelt der Rückblick

auf hundert Jahre Vereinsgeschichte nicht; es gab immer wieder Rückschläge und auch Fehlentscheidungen. Aber eine faire Sichtung des überlieferten Materials zeigt doch, dass die Arbeitertouristen in vielen Bereichen mit den Vereinigungen des bürgerlichen Lagers gleichzogen oder sie übertrafen.

An vorderster Stelle kann hier das Verhältnis zur Natur angeführt werden. Die Natur, lange Zeit das undurchschaubar feindliche Gebilde, dem man mühsam das tägliche Brot abrang, wurde erst spät als schönes Gegenbild zur rücksichtslosen zivilisatorisch-technischen Expansion entdeckt und bewundert. Statt Schutz vor der Natur war bald Schutz der Natur gefordert. Er wurde in der gesamten Wanderbewegung ernst genommen; bei den Naturfreunden gehörte er zu den Forderungen, an die ständig erinnert wurde und die bei jedem Ausflug Beachtung fanden. In manchen ihrer Aufzeichnungen wird deutlich, dass ihnen der romantische Blick auf die Naturschönheiten keineswegs fremd war; da werden dann – etwa im Bericht über eine Kinderwanderung im Sommer 1926 – unsere herrlichen Wälder, die lieblichen Täler mit ihren klaren plätschernden Wässerlein, …Blumen und Blüten in bunter Pracht angeführt[7]. Aber im gleichen Text ist die Rede vom Schutz der herrlichen Schätze der Natur. Dies war ein leitendes Motiv bei jeder kleinen Wandertour, und man engagierte sich auch, wenn in anderen Regionen Gefahr drohte; gegen den Abbau des Wildseemoors im nördlichen Schwarzwald in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich die Tübinger Ortsgruppe mit einem flammenden Protest.[8] Die Natur war eben nicht nur der Lieferant bunter Bilder und schöner Gefühle, sondern wurde als besonderer Lebensraum verstanden.

Man ging in die freie Natur, um grundsätzlich auch deren geschichtliche Entwicklung und deren vielfältige Lebensformen kennen zu lernen. Schon 1928 führten die Tübinger Naturfreunde ihre Arbeit in einer Ausstellung vor.[9] Im Kornhaus vermittelten sie Einblicke in geologische Sammlungen; Kleintiere und Pflanzen wurden gezeigt, in Fotografien wurden die Wanderziele vorgeführt, und einzelne Modelle gaben einen Eindruck von den Wanderheimen, den Naturfreundehäusern. All das war nicht nur spielerischer Zeitvertreib, sondern es handelte sich um Bestrebungen, die auch von Spezialisten anerkannt wurden. Die Höhlenforschung auf der Alb wurde von verschiedenen Gruppen der Naturfreunde vorangebracht[10]; ein Heilbronner Naturfreund war anerkannter Entomologe[11] (seine Schmetterlingssammlung war wohl so bedeutend wie die vielzitierte des Dichters Ernst Jünger); und selbst an den wahrscheinlich wertvollsten Tübinger Kulturgütern, den vorzeitlichen Funden aus dem Lonetal, hatten Naturfreunde ihren Anteil: Bei der Untersuchung eines Fuchsbaus blieb in den Bergschuhen eines Heidenheimers ein kleines Steinwerkzeug hängen, was erst die weiteren Grabungen der Tübinger Urgeschichtler veranlasste.[12]

Die Ernsthaftigkeit solcher Interessen wird vor allem auch dadurch bezeugt, dass immer wieder Wissenschaftler zu Vorträgen in den Versammlungen der Naturfreunde gebeten wurden. In Tübingen wurde das Wissen der Mitglieder auch vertieft, indem man regelmäßig Institute der Universität besuchte und sich dort über die Ergebnisse der Forschung orientierte. Gute Kontakte bestanden allerdings nur zu einem kleinen Teil der Professoren; aber immerhin gab es in jenen Jahren an der Universität einige sozialistisch orientierte Wissenschaftler wie beispielsweise den Wirtschaftswissenschaftler Robert Wilbrandt, dessen Vorlesungen so gefragt waren, dass dies den Ausbau des Audimax veranlasste[13]. Für die Mehrzahl seiner Kollegen war er freilich ein Außenseiter, und sie rückten vollends von ihm ab, als er 1925 den Vortrag des pazifistischen Heidelberger Hochschullehrers Gumbel einleitete[14].

Diese Vortragsveranstaltung führte zu einem kleinen Bürgerkrieg, wie die örtliche Presse notierte. Studenten der rechtsorientierten Verbindungen hatten schon in Tübingen den vorgesehenen Saal im „Hirsch“ besetzt, und viele Hundert (sogar von 2.500 war die Rede) zogen auch nach Lustnau, wohin man den Vortrag verlegt hatte, und sprengten die Veranstaltung. Die Tübinger Naturfreunde gehörten zu den rüde Angegriffenen[15]; zur Mehrheit der Studenten bestand schon vorher und jetzt erst recht ein gespanntes Verhältnis. Aber andererseits waren es auch Studenten, welche den Naturfreunden nicht nur in ihrer politischen Grundhaltung den Rücken stärkten, sondern sie schon in den ersten Vereinsjahren in ihren kulturellen Ambitionen unterstützten: Von ihnen kam die Anregung zur Ausbildung im volkstümlichen Tanz und zur Bildung einer Sing- und Musikgruppe, und sie beteiligten sich daran aktiv.[16]

Intensives wissenschaftliches Interesse war charakteristisch für die Touristen. Zu diesem Begriff, der ja bis heute im Vereinsnamen enthalten ist, muss angemerkt werden, dass er noch nicht durch die kommerzialisierte Reiseindustrie beschädigt war. Heute distanzieren sich viele der Reiseliebhaber davon, Touristen sind für sie immer nur die andern. Damals dagegen nannten sich diejenigen Touristen, die ihre Wege in die Natur, in bekannte und unbekannte Landschaften als ernste Aufgabe sahen und sich gründlich darauf vorbereiteten. Sie bedienten sich dabei anerkannter Methoden, und sie legten auch Wert auf das richtige Instrumentarium. Eng verwandt mit dem naturwissenschaftlichen Interesse war die Hinwendung zur Technik. Insbesondere suchte man die Möglichkeiten der Fotografie auszuschöpfen. In den Vereinszeitschriften werden von Anfang an und kontinuierlich entsprechende Anleitungen abgedruckt; und der Tübinger Verein investierte beachtliche Geldsummen für einen Lichtbildapparat, der als Vorführgerät dann auch an andere Ortsgruppen verliehen wurde.[17]

Die zentrale Leitformel des Vereins hieß Soziales Wandern. Das schloss den vernünftigen, in Ansätzen wissenschaftlichen Umgang mit der Natur ein, zielte aber vor allem auf das gemeinschaftliche Tun und die Vermeidung unnötiger Hierarchien. Die Führung bei den Wanderungen wechselte ständig; die verschiedenen Funktionen im Verein wurden aufgrund demokratischer Entscheidungen verteilt; bei größeren Aufgaben wie beim Bau des Hauses beim Rutschenfelsen halfen alle zusammen; und bei den Touren selbst ging es familiär zu. Auch deshalb, weil Frauen einbezogen waren. Gewiss, sie waren in den Häusern fürs Kehren und Schrubben eingeteilt und meistens fürs Essen zuständig – man kann kritisch vermerken, dass im kleinen Verein wie im großen Verband die Frauen in leitenden Positionen fehlten; aber gemessen an der gesellschaftlichen Gesamtsituation und im Vergleich mit den dominierenden Männerbünden in vielen anderen Vereinen war ihre Integration ein Fortschritt. Und nicht nur die Frauen waren dabei, auch die Kinder – und die Jugendlichen, die von den älteren Mitgliedern allerdings erst nach einigen Widerständen in die Freiheit ihrer autonomen Unternehmungen entlassen wurden.[18]

Pionierarbeit leisteten die Naturfreunde aber vor allem auch, was ihre internationale Ausrichtung betrifft. Diese quasi außenpolitische Seite ihres Engagements spielte aufs Ganze gesehen vielleicht eine größere Rolle als die ‚innenpolitischen’ Auseinandersetzungen. Freundschaft mit der Natur wird ja mitunter immer noch als typisch deutsche Haltung betrachtet; dabei gab und gibt es weltweit Menschen, die diese Haltung zu ihrem Programm gemacht haben. Der Wiener Verein entwickelte sich schnell zum Weltverein; der Gruß Berg frei! wurde bei feierlichen Anlässen gern erweitert mit Länder frei! Völker frei! Welt frei! Und in den 1930er Jahren, also in der faschistischen Epoche, wurde vollends der Grund gelegt für die Internationale der Naturfreunde, die 1950 entstand[19]. Das war keine exklusive Idee reisefreudiger Funktionäre, sondern eine Realität, die immer stärker in das Leben der örtlichen Gruppen hineinwirkte. Im Jahr 1981 fand zum Beispiel ein Internationaler Naturfreunde-Tag in Lustnau statt, und seit der Begründung der Städtepartnerschaft mit Aix-en-Provence 1970 gibt es einen regelmäßigen Besuchsaustausch nicht nur mit den französischen, sondern auch mit tschechischen, ungarischen, italienischen, englischen, schottischen und natürlich österreichischen und Schweizer Freunden.

Die Naturfreunde haben nach dem Krieg in diesem wie in anderen Bereichen eine wichtige Stellvertreterfunktion übernommen. Man hat oft mit Verwunderung registriert, dass sie die Einzigen waren, welche die Prinzipien und Aktivitäten einer Arbeiterkultur – sicher mit Unterstützung der Gewerkschaften und der sozialistisch orientierten Parteien – aufrecht erhielten, obwohl sie wie andere Arbeitervereine in der NS-Zeit ausgegrenzt und verfolgt waren. Die Ursache dürfte letztlich in dem umfassenden Auftrag zu finden sein, den die Naturfreunde in Ziele und Aktionen umsetzten. Für die auf ein engeres Gebiet abonnierten Vereine bot sich in der Nachkriegszeit die Vereinigung mit bürgerlichen Parallelvereinen an; Theodor Heuss plädierte beispielsweise für die Einheit der Sportverbände mit der Bemerkung, es gebe keinen proletarisch-marxistischen Klimmzug und keinen bürgerlich-kapitalistischen Handstand, was schwerlich zu bestreiten ist[20].

Das Aktionsfeld der Naturfreunde beschränkte sich nicht auf ein spezielles Sachgebiet. Sie suchten die ‚räuberische Phase’ der menschlichen Entwicklung – so zitierten sie 1953 Albert Einstein in ihrer Zeitschrift[21] – auf allen Feldern zu überwinden in der Anstrengung für eine umfassende Bildung ihrer Mitglieder. Dieses große und sicher nur in Annäherungen erreichbare Ziel ist schon den Anfängen der Bewegung eingeschrieben – deshalb ist die Erinnerung an diese Anfänge sehr viel mehr als das leere Diktat einer runden Zahl.


[1] Protokollbuch 1913 – (1924). Diesem ersten Protokollbuch des Vereins sind auch die folgenden Angaben zum Vereinsgeschehen im ersten Jahrzehnt entnommen.

[2] Protokollbuch 1913 – (1924), 3. August 1922

[3] Der Naturfreund. Mitteilungen des Touristen-Vereins „Die Naturfreunde“, 12. Jg. Wien 1908, S.55; ähnliche Argumentationen ebd. S. 3f., 111, 153, 277f.

[4] Autorengruppe: Arbeitertübingen (Hg. DGB Tübingen), Tübingen 1980, S.175.

[5] Der Naturfreund 1914, S. 137, zitiert so einen Bericht der „Heidelberger Zeitung“ zur Eröffnung des Naturfreundehauses Kohlhof im Odenwald.

[6] Annegret Knoll: Der Tübinger Touristenverein „Die Naturfreunde“ als Teil einer proletarischen Kulturorganisation. Mschr. Magisterarbeit, Tübingen 1982, S.39f.

[7] Bericht der Naturfreunde in der Tübinger Chronik vom 29. Juni 1926, zitiert von Annegret Knoll (wie Anm.6), S.91.

[8] Protokollbuch 1913 – (1924), Juni 1920.

[9] Tübinger Chronik, 23. Oktober 1928, zitiert von Annegret Knoll (wie Anm.6), S.92.

[10] Wulf Erdmann, Jochen Zimmer (Hg.): Hundert Jahre Kampf um die freie Natur. Essen 1991, S. 70-73.

[11] Emil Birkert: Von der Idee zur Tat. Heilbronn o.J. (1970), S. 133f.

[12] Ebd. S. 70-73.

[13] Arbeitertübingen (wie Anm.4), S.105f.

[14] Ebd. S.168.

[15] Annegret Knoll (wie Anm.6), S.94f.

[16] Protokollbuch 1913 – (1924), 8. Dezember 1921.

[17] Protokollbuch 1913 – (1924), 28. Oktober 1916, 2. Februar 1919, 11. Januar 1920, 25. November 1920, 8. Januar 1922.

[18] Protokollbuch 1913 – (1924), 3. Mai 1923; Annegret Knoll (wie Anm.6), S.60f.

[19] Bruno Klaus Lampasiak, Leo Gruber, Manfred Pils: Berg frei – Mensch frei – Welt frei! Eine Chronik der internationalen Naturfreundebewegung von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis zum Zeitalter der Globalisierung (1895-2005), 2. Aufl. 2009.

[20] Hermann Bausinger: Sportkultur. Tübingen 2006, S.34.

[21] Aufstieg, Jg.21 Nr.4, April 1953, S.67.

 

Prof. em. Dr. Hermann Bausinger

Universität Tübingen

Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Burgsteige 11 (Schloss)

D-72070 Tübingen

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