Evamarie Blattner / Wiebke Ratzeburg (Hrsg.). Natur: Hier bin ich Mensch, hier will ich sein. 100 Jahre Naturfreunde Tübingen. Tübingen: Stadtmuseum Tübingen, 2013.
Hundertjährige Jubiläen häufen sich bei den deutschen NaturFreunden gegenwärtig, und entsprechend der starken Dezentralisierung des Verbands begeht jede Ortsgruppe diesen Jahrestag in sehr unterschiedlicher Weise.
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Ein ausgesprochen glückliches Händchen hatte dabei die Ortsgruppe Tübingen. Ihr gelang eine doppelt produktive Zusammenarbeit nicht nur mit dem Stadtmuseum, sondern auch mit der örtlichen Universität. In Kooperation entstand so zum einen eine höchst ansprechende, wirksam platzierte und zudem intensiv beworbene Ausstellung im Erdgeschoss des mitten im Stadtzentrum gelegenen Museums (21.9.-1.12.2013). Zum anderen erarbeitete man den Begleitband, den es hier anzuzeigen gilt.
Gewiss lässt sich auf hundert, wenn auch großformatigen Seiten, keine umfassende Geschichte der Idee und Praxis der Naturfreunde auch nur in einer Region beschreiben. Aber im Zusammenwirken von sehr anschaulichem Bildmaterial und Texten unterschiedlicher und doch sich ergänzender Art ergibt sich sowohl ein Bild der Umstände, unter denen die Tübinger Ortsgruppe sich entwickelte, als auch eine Vorstellung, wie diese Verbandsgeschichte mit der Geschichte im Großen verbunden ist.
Diesem Ziel liegt auch der Aufbau des Bands zu Grunde. Unter den zehn in sich sehr kompakten Hauptaufsätzen beschäftigen sich die ersten fünf mit allgemeineren Fragen und verlieren doch nie die Situation vor Ort und den konkreten Anlass aus dem Auge. Sie stammen durchgängig von Tübinger Hochschullehrern. Hermann Bausinger skizziert in großer Dichte das historisch Typische an der Idee, Naturfreund/in zu sein.[1] Wilfried Setzler lässt das zeitgeschichtliche Tübingen, aus dem die Ortsgruppe entstanden ist, aufleben. Dorothee Kimmich stellt sich auf nur drei Seiten der Frage „Natur und Kultur: Ein ewiger Konflikt?“ – und benennt so den Punkt, an dem Naturfreunde sich von „reinen Naturschützern“ unterscheiden. Die Komplexität des Naturbegriffs und wie sich die frühen Naturfreunde eine produktive Vorstellung davon machten diskutiert Rainer Treptow. Und schließlich umreißt Thomas Potthast die Wandlungen der Begriffe „Umweltgerechtigkeit“ und „Nachhaltigkeit“.
Der zweite Teil des Bands geht konkreter ein auf die typische Praxis der Ortsgruppe, wobei klar wird, wie ihr Selbstverständnis bei aller Kontinuität Wandlungen unterworfen ist. Madlen Petzsche schreibt „Eine kleine Geschichte des Sanften Tourismus“ und belegt sie kritisch aus der Ortsgruppenpraxis. Evamarie Blattner untersucht „Die unterschiedlichen Gesichter der Naturfreunde“ in politischer Hinsicht („Protest!“). Wiebke Ratzeburg lässt den Fotografen August Kraft (geb. 1895) aufleben, von dem ein wesentlicher Teil der Fotos zum Vereinsalltag stammt. Und schließlich gibt Yagmur Koreli eine differenzierte Darstellung der Rolle der Frauen in der Ortsgruppe – zwischen dem emanzipatorischen Anspruch des Verbands und einer doch nicht immer solchen Vereinsrealität.
Im letzten Teil des Bands beleuchten Aktive die eigene Geschichte. Der persönliche Tonfall ergänzt die bisher im Band vorherrschende theoretisch informierte Sicht in wirkungsvoller Weise. Stolz berichtet man von den regelmäßigen Wanderungen und einer sehr umfassenden internationalen Reisetätigkeit. Das Musikleben der Ortsgruppe erhält einen eigenen Eintrag, und das seit etwa dreißig Jahren wieder stärkere politische Bewusstsein zieht sich durch alle Berichte. Durchaus selbstkritisch wird aber auch z.B. das Auf und Ab in der Jugendarbeit dargestellt.
Alles in Allem also eine weit über Tübingen hinaus bemerkenswerte Schrift. Neben der guten Lesbarkeit des Bands bemerkenswert sind die durchgängig geglückten und aussagekräftigen Illustrationen. Glückwunsch also den Tübinger NaturFreunden, die sich zum Geburtstag eine solches Geschenk haben machen lassen!
Dr. Klaus-Dieter Gross
Eichendorffstr. 3a
D-93051 Regensburg
dieter.gross@naturfreunde-bayern.de
[1] Der Beitrag ist auch in der vorliegenden Nummer von NaturFreundeGeschichte/NatureFriendsHistory als Eröffnungstext nachzulesen. Gerade hier fällt auf, dass die Ortsgruppe weiterhin am historischen Begriff des „Touristenvereins“ festhält, den ein großer Teil der deutschen NaturFreunde aufgegeben hat.