Die Beziehungen zwischen dem organisierten Katholizismus und den Naturfreunden in der Weimarer Zeit waren überwiegend spannungsgeladen. Dieter Groß dokumentiert exemplarisch eine Regensburger Episode, in der ein katholischer Sozialverband mit Unterstützung öffentlicher Stellen die Naturfreundejugend unter Druck setzt.
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Im Namen der Moral – oder: Wie Berufsschulen und Katholischer Jugend-fürsorgeverein sich der Naturfreundejugend annehmen. Eine Regensburger Episode aus den 1920ern
1. Die Ausgangslage: Kath. Jugendfürsorgeverein gegen Naturfreundejugend
Noch weit in das 20. Jahrhundert hinein bekämpfte die katholische Kirche auch in Regensburg ganz pauschal jede Form der „Sozialdemokratie“ wegen gottferner und Autoritäten bezweifelnder Ideen – längst noch vor der auch formalen Spaltung der Arbeiterbewegung im Gefolge der Russischen Revolution 1917. So erließ ihr Generalvikar für das bischöfliche Ordinariat am 23. Oktober 1911 eine vertrauliche Anweisung, wie durch Unterwanderung, Einschüchterung und Zensur gegen sozialistische Agitation vorzugehen sei.[1] Dass die Anweisung den gerade gegründeten örtlichen Naturfreunden bekannt war, mag bezweifelt werden. Folgen spürten sie gewiss, und das, obwohl doch ihr Interesse in erster Linie gemeinsamer Freizeitgestaltung, vor allem dem Wandern, galt – wenn auch ausdrücklich im Rahmen der Arbeiterbewegung, aus der der Verband hervorgegangen war.[2]
Auch in Regensburg entwickelte sich der „Touristenverein die Naturfreunde“ (heute einfacher: NaturFreunde) aus kleinen Anfängen zu einer tragenden Säule des in der Weimarer Republik so vielschichtigen Netzwerks fortschrittlicher Vereinigungen. Er war damit eingebunden in den allgegenwärtigen Rechts-Links-Konflikt, der – mehr noch als die selbstzerstörerischen Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung – diese Zeit so wesentlich prägte.
Ein Stadtratsakt im Regensburger Stadtarchiv verdeutlicht beispielhaft und ausführlich den kirchlichen Versuch, mit – zögernder, da auf zweifelhafter Rechtsgrundlage – Unterstützung städtischer Stellen, die Tätigkeit der Naturfreunde zu behindern. Dieser Akt ZR-I 2607 („Teilnahme Jugendlicher insb. Fortbildungsschüler an Vereinen“, 1922-1933) bezeugt umfassend, wie junge Naturfreunde vom Besuch der örtlichen Fortbildungsschule ausgeschlossen beziehungsweise zum Verlassen des Vereins genötigt wurden.
Drei Instanzen ziehen dabei quasi arbeitsteilig an einem Strang: Das städtische Berufsschulwesen, eine katholische Sozialeinrichtung und Stadtverwaltung samt Stadtrat. In einer Art „Kulturkampf“ suchte eine einflussreiche kirchliche Institution, ihre konservativen Moralvorstellungen exemplarisch gegen einen scheinbar leichter verwundbaren Teil eines unliebsamen Verbands durchzusetzen, nämlich dessen Jugend. Ein Vorgehen gegen die Erwachsenenortsgruppe der Naturfreunde, seit 1921 Mitglied im örtlichen „Arbeiter-Sport- und Bildungs-Kartell“ und mit den anderen lokalen Verbänden der Arbeiterbewegung verbunden,[3] wäre wohl umstrittener gewesen.
Die genannten „Fortbildungsschulen“ sind Vorläufer der heutigen Städtischen Berufsschulen. Dass ausgerechnet dieser Schultyp im Mittelpunkt stand erklärt sich, weil die Kommune auf ihn mehr Zugriff hatte als auf staatliche Schulen. In den Akten taucht nicht zufällig oft Ärger auf, dass Gymnasiasten nicht belangt werden konnten. Von 1921 bis 1934 wurden diese Fortbildungsschulen nach Geschlechtern getrennt geführt.[4] Josefa Kronburger, die damalige Direktorin der weiblichen Abteilung, spielte als Verteidigerin traditioneller Geschlechterverhältnisse im gesamten Fall eine herausragende Rolle.
Eine weitere treibende Kraft war der Katholische Jugendfürsorgeverein (KJFV), der Vorgänger der heutigen Katholischen Jugendfürsorge im Bistum Regensburg (KJF).[5] Erwähnt wird er erstmals im Stadtarchiv unter ZR II 8067 für den 8. Mai 1911, noch getrennt nach Stadt und Land. Nach der Zusammenlegung bestand seine Aufgabe in den 1920er Jahren darin, für die Kirche in der Zwangs- und Fürsorgeerziehung aktiv zu sein sowie gefährdeten Jugendlichen zu helfen. In Ausweitung dieses Auftrags interpretierte man sich als quasi-öffentliche Einrichtung mit dem Auftrag zur Bekämpfung „moralischer“ Verwahrlosung.
Schon am 6. Juni 1911 benennt der Regensburger Oberbürgermeister Gessler in einem Schreiben an den KJFV wesentliche Profilelemente, die bis in die 1920er Jahre nachwirken sollten: Zwangserziehung, Unterbringung Jugendlicher, Gutachtertätigkeit in Kriminalfällen. Gegen Ende des Jahrzehnts sollte der Einfluss des KJFV abnehmen; so wurde 1928 sein Antrag, die Infrastruktur der Regensburger Berufsbildungsschulen zur Beantwortung von nicht genauer benannten Fragebögen zu nutzen, von der Schulbehörde abgelehnt. Erzieherische Gründe sprächen dagegen und es gäbe erheblichen Widerstand selbst der Arbeitgeberseite (ZR II 8067).
Der KJFV verstand sich als Teil des staatlichen beziehungsweise kommunalen Verwaltungsapparats, obwohl er keineswegs den Prinzipien der Weimarer Demokratie verpflichtet war. Darin wurde man von konservativen Mandatsträgern bestärkt. Anlässlich des Inkrafttretens des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1922/24 mahnte Oberbürgermeister Hipp von der Bayerischen Volkspartei den örtlichen Bischof Henle beispielsweise, „der katholische Einfluß sei nur gesichert und Zuschüsse von Staat und Gemeinden könnten nur fließen, wenn die konfessionellen Einrichtungen voll und ganz arbeitsfähig sind und bereits einen erheblichen Teil der gesetzlichen dem Jugendamt obliegenden Aufgaben an sich genommen haben und befriedigend ausführen.“[6]
Weitgehend Einigkeit bestand mit der evangelischen Jugendpflege, wie Kronburger in einem Jahresbericht feststellte: „Der sittlichen oder schon gefallenen Mädchen nehmen sich die beiden Jugendfürsorgevereine an.“[7] Allein im damaligen Stadtgebiet (vor den umfassenden Eingemeindungen 1924, die das Stadtgebiet erheblich vergrößerten) waren sie mit insgesamt 1462 Fällen von Schulaufsicht, Jugendgerichtshilfe und Fürsorgeverfahren befasst.[8]
Dem hauptamtlichen KJFV-Apparat von damals sieben Angestellten und zwei Praktikanten stand zunächst ein Domkapitular, von 1923-27 ein Oberstudienrat und von 1921-28 Gustav von Mann vor. In den vorliegenden Akten tauchen Führungsinstanzen allerdings nicht auf. Unter den fünf Abteilungen des KJFV waren im konkreten Ablauf aktiv diejenigen, die mit „Fürsorge für die gefährdete männliche [bzw. weibliche] Jugend“ überschrieben sind. Es scheint sich derart um routinemäßiges Vorgehen – diesmal eben gegen die Naturfreundejugend – gehandelt zu haben.
Stadtverwaltung und Oberbürgermeister zogen sich auf juristische Fragen zurück. Umso bedeutender war Kronburgers Rolle, die nicht nur die Maßnahmen gegen Schülerinnen stützte, die Mitglieder oder Sympathisantinnen der Naturfreunde waren. Sie führte selbst inquisitionsartige Befragungen durch und übte Druck aus.
Über Reaktionen seitens der Naturfreunde gibt der Stadtratsakt keinen Aufschluss. Und weil die lokalen Vorkriegs-Unterlagen dem Verbot des Verbands durch die Nazis zum Opfer fielen, fehlen auch eigene Stellungnahmen und Berichte der Ortsgruppe. Es lässt sich weder nachvollziehen, inwieweit der Vorstandswechsel vom in den Akten angegriffenen Vorsitzenden Leopold Tröbinger zu Sylvester Häring im Jahr 1924 damit zu tun haben könnte, noch ob die Änderung des Rechtsstatus der Ortsgruppe zum ins Vereinsregister „eingetragenen Verein“ im gleichen Jahr damit zusammenhängt; die neue „bürgerliche“ Verfasstheit könnte ja die juristische Angreifbarkeit des Vereinsvorstands verringert haben.
Ob die Versuche, Fortbildungsschüler zum Austritt bei den Naturfreunden zu zwingen, Auswirkungen auf die Mitgliederstruktur hatten, ist nicht festzustellen. Nach Berichten des Verbandsmagazins Nordbayerischer Wanderer stieg die Mitgliederzahl im Jahr 1924 von 156 steil auf 293 im Jahr 1925.[9] Neben der wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung nach der Hyperinflation von 1921-23 könnte größere öffentliche Präsenz dafür verantwortlich sein. Beim Arbeiterkulturfest am 21.-23. Juli 1923 in Regensburg zeigten der Touristenverein „lebende Bilder“ und präsentierte sich als Teil der Arbeitersportbewegung sowie des lokalen Arbeitersportkartells. Neben regelmäßigen Wanderungen und der Unterstützung der Nachbarortsgruppe Kelheim beim Bau des ersten ostbayerischen Naturfreundehauses gab es Diavorträge im gewerkschaftsnahen „Volkshaus Paradiesgarten“, Wegmarkierungsarbeiten und Reisen u.a. nach Wien und in die Schweiz. Allerdings vermeldet man trotz Stundung des Beitrags für Arbeitslose Streichungen aus der Mitgliederliste. Gesonderte Daten zu Naturfreunde-Jugendlichen gibt es nicht.
Als generelle Kategorie tauchen Letztere im Rechenschaftsbericht des Gaus Nordbayern zu den Jahren 1926 und 1927 im Wanderer zwar auf, jedoch fehlen Einträge für Regensburg. Auch der Bericht zur Programmatik der nordbayerischen Naturfreundejugend in der SPD-nahen Tageszeitung Volkswacht vom 22.9.1926 gibt hier keinerlei Aufschluss (Abb. 1).
Bemerkenswert ist, dass in den detaillierten von den Schulen zu erstellenden und dem Akt beiliegenden Listen zur Erfassung der Vereinsmitgliedschaft Jugendlicher aus demselben Jahr die Naturfreunde und ihre Jugend ebenfalls nicht auftauchen. Ab 1927 sank die Gesamtzahl der Mitglieder zunächst auf 122 und weiter auf 93. Die Gründe dafür sind unklar. So ist eine nachhaltige Wirkung der Benachteiligung schulpflichtiger Naturfreunde-jugendlicher weder belegbar noch auszu-schließen. Doch Fotos von Touren der späteren 1920er Jahre zeigen eine große Anzahl Teilnehmer.
2. Der Konflikt: Die Unmoral derNaturfreundejugendlichen
Abb. 3
Der Sachverhalt in Akt ZR-I 2607 eröffnet damit, dass sich Stadtschulrat Dr. Freudenberger im November 1922 telefonisch (und daher im Wortlaut nicht überliefert) an die Direktorin der Berufsfortbildungsschule für Mädchen wendet. Kronburger antwortet am 13. November unter „Betreff: Teilnahme Jugendlicher an gewissen Vereinen“. Der Schriftsatz umfasst ein siebenseitiges Anschreiben und 37 Seiten mit Aussagen einer Vielzahl befragter Schülerinnen und Schüler, teils im Original, teils in maschinenschriftlicher Abschrift. Es folgen Befragungs-Protokolle vor allem zur Tätigkeit der Naturfreunde und eines „Zentralverbands“.[10]
Kronburger beruft sich insbesondere auf Beobachtungen der Gewerbehauptlehrerin Weigert und beklagt, der „Zentralverband wie auch der Verein der Naturfreunde“ sammelten Jugendliche zu gemeinsamen Ausflügen. Viele Aussagen beziehen sich ausdrücklich auf Hörensagen. Die Naturfreunde selbst führten samstags Tages- wie Nachttouren mit Teilnehmern beiderlei Geschlechts und offenem zeitlichen Ende durch. Man halte sich im Freien wie in Gasthäusern auf. Bei (schon von der Natur her für Mädchen ungeeigneten) Klettertouren trügen die weiblichen Beteiligten nicht nur unziemlich Hosen, sie kleideten sich zudem nur von Gebüsch und Felsen verdeckt um. Es würden burschikose Lieder gesungen und das Bauerntheater besucht. Streikaufrufe seien verteilt worden.
In einem Brief an die Direktionen beider Fortbildungsschulen vom 21. November 1922 untersagt die Stadtschulbehörde daraufhin den Schülern und Schülerinnen die Zugehörigkeit zu den Naturfreunden und betont, dass ausnahmslos jeder Vereinsbeitritt von Schülern schulische Genehmigung vorausgesetzt (Abb. 3).
Zwei Tage später, am 23. November, schreibt der Katholische Jugendfürsorgeverein an den Stadtrat von Regensburg und legt „sehr belastendes Material gegen die Jugendgruppe des Vereins Naturfreunde“ vor. Mitglieder seien einvernommen worden – die weiblichen von der Direktorin der Fortbildungsschule, die männlichen vom KJFV. Die Naturfreunde bestünden aus drei Gruppen, der Stammgruppe (wohl dem „Erwachsenenverband“), der Winter- und Bergsportsektion und der Jugendgruppe. Die Jugend kooperiert mit dem „Zugvogel“ und der „Wanderlust“, beides Vereinigungen von Studenten (also Schülern) des Alten Gymnasiums und der Oberrealschule. Treffpunkt sei das Alte Brauhaus, wo sich die Jugend jeden Dienstag, die Wintersportler jeden Mittwoch und der gesamte Verein jeden Freitag träfen. Obmann der Ortsgruppe sei der Schneider Tröbinger (Abb. 4), der zwar schimpfe, sich aber weder gegen die Jugendlichen noch die völlig unfähigen Jugendleiter (zuerst der 18jährige Buchberger, dann der Fortbildungsschüler Leopold Reith) durchsetzen könne (Abb. 5). Ohne Rücksicht auf Persönlichkeitsrechte ergänzt die Schule den stadtratsöffentlichen Bericht durch die ausführliche Beschreibung diesbezüglicher Verfehlungen:
Bei Naturfreunde-Aktivitäten seien Jugendliche wie Erwachsene anwesend, doch letztere schritten nie gegen Missstände ein – so beispielsweise als Reith sich mit Maria Dersch in eine Decke eingewickelt habe. Man unternehme Nachttouren, bei denen sich männliche und weibliche Jugendliche von der Hauptgruppe lösten und ihrer eigenen Wege gingen. Ausdrücklich leitet die Einwendung daraus den Sachverhalt der „Gewerbsunzucht“ ab. In handschriftlichen Aussagen männlicher Befragter beschrieben diese die Naturfreunde-Jugendgruppe als führerlos; jeder tue, was er wolle; es nähmen sogar Nichtmitglieder teil. In Folge des Treibens gingen die Teilnehmer sonntags nicht zur Kirche. [11]
Die Protokolle stammen einerseits vom Geschäftsführer der katholischen Jugendfürsorge, der die männlichen Befragten in zwei Gruppen von acht und fünf Schülern befragte, andererseits legte Direktorin Kronburger Einzelprotokolle zu Einvernahmen von ebenfalls 13 Schülerinnen bei (z.B. Abb. 6). Wie sehr man sich dabei in einer eher polizeilichen als pädagogischen Rolle sah, verdeutlicht die Wortwahl: Die männlichen Beteiligten wurden „vernommen“, die weiblichen „verhört“, die Ergebnisse wurden „zu Tage gefördert“.
Die „Zeugenaussage“ von Albert Zirngibl vom 14.11.1926 vermerkt als besonderes Detail, dass die Naturfreunde beim Gewerkschaftsfest im Regensburger Stadtpark „einen Lagerplatz aufgeschlagen“ hätten, wo es zu direkten Kontakten männlicher und weiblicher Jugendlicher gekommen sei; mehrfach seien Kussszenen beobachtet worden.
Der KJFV folgert daraus für die Fortbildungsschulen,
– die Mitgliedschaft von Schülern bei den Naturfreunden „strengstens zu verbieten“,
– das gemeinsame Wandern beider Geschlechter zu untersagen,
– die Naturfreunde als „politischen Verein“ zu benennen (dies wäre die juristische Voraussetzung für den prinzipiellen Ausschluss vom Unterricht),
– den Schulen anzuraten, keine Genehmigungen für den Beitritt von Schülern auch des Alten Gymnasiums und der Oberrealschule zu geben,
– Jugendgruppen generell nur zuzulassen, wenn ihre „Führer“ erwachsen – also wohl über 21 – und „eine einwandfreie Persönlichkeit“ sind,
– die Polizei zu strikter Überwachung aufzufordern, und
– die „meistbelasteten Jugendlichen“ (sieben Jungen und fünf Mädchen, je namentlich benannt) vom Unterricht auszuschließen.
Hintergrundformulierungen zum Selbstverständnis der Berufsbildungsschulen finden sich in deren Jahresberichten.[12] Der Leiter der Fortbildungsschule für männliche Jugendliche, Six, moniert in Kapitel 7 für das Jahr 1923 („Verhalten der Schüler, erzieherische Überwachung“): „Die jungen Leute haben zu viel Geld in der Hand. […] Theater und Kinobesuch, Lesen von Schundromanen, Naschen und Zigarettenrauchen sind Grundübel der Jugend unserer Zeit.“ Und in Kapitel 12 („Jugendpflege“) lobt er zunächst Lehrlingsvereine und Vereine der Arbeiterjugend, um dann fortzufahren: „Leider kam es in einem Vereine, dem Fortbildungsschüler beigetreten waren, zu Ausschreitungen, so daß ihnen die Teilnahme an diesem Vereine verboten werden mußte. Wer noch nicht selbst stehen kann, soll sich nicht vermessen, andere zu führen.“ Einen Vereinsnamen nennt er nicht – doch es scheint plausibel, dass er die Naturfreundejugend meint.
Dies unterstreicht Six´ Kollegin Kronburger in ihrem Bericht zum selben Schuljahr: „Über das sittliche Verhalten mancher Schülerinnen im abgelaufenen Schuljahr mußte leider bitter Klage geführt werden“; Tanzveranstaltungen, Theater- und Bauerntheaterbesuche und Kontakte zu männlichen Jugendlichen hätten vielfach zu Disziplinarmaßnahmen geführt.[13] In Kapitel 5 („Verhalten der Schülerinnen, erzieherische Überwachung“) bezieht sie sich namentlich auf die Naturfreunde.
Während Six für 1924 Besserung feststellt, beklagt Kronburger weiterhin die „sittliche Verdorbenheit durch frühzeitige Bekanntschaften und Liebeleien“, berichtet von acht Einweisungen in Anstaltserziehung und einer zunehmenden Zahl, nunmehr fünfzig, von Schülerinnen unter Schulaufsicht. Als Verband werden die Naturfreunde nicht mehr erwähnt. Die unterschiedlichen Einschätzungen – positiver bei den Jungs, negativer bei den Mädchen – prägen auch die Berichte der beiden Folgejahre.
Für die kommunale Seite regt, in Gleichklang mit den Forderungen des KJFV, auch Oberbürgermeister Hipp am 4. Dezember in einem Schreiben an die weiterführenden staatlichen Schulen eine strenge Überprüfung an den Gymnasien an und verweist darauf, dass die Stadtschulbehörde Fortbildungsschülern die Zugehörigkeit zu den „sogen. Wandervereinen ‚Naturfreunde’, ‚Wanderlust’ u.dgl.“ untersagt hat. Er beruft sich auf § 23 der Disziplinarordnung für Fortbildungsschulen,[14] eine Nachfrage beim zuständigen Ministerium in München bzw. bei der Kreisverwaltung der Oberpfalz (dem heutigen Regierungspräsidium) sowie eine kultusministerielle Entschließung vom 30.10.1024 (Nr. III 27216). Letztere regelt generell die Beziehungen von Jugendverbänden und Schule. Zweck der Regelungen sei die „körperliche, geistige, sittliche oder religiöse Förderung der Jugend“. Volksschüler dürfen, abgesehen von religiösen Organisationen, erst ab der 8. Klasse Mitglieder von Vereinen sein, wobei diese von den Schulbehörden genehmigt sein müssen. Die Tätigkeit des Erwachsenenverbands und der Jugend sei zu trennen. Die Jugendleiter hätten gefestigte Erwachsene zu sein, und es gälte ein Ausgehverbot ab 21:00 Uhr. Bei Sportverbänden seien die Geschlechter zu trennen. Bei politisch orientierten Verbänden gäbe es Beschränkungen bezüglich deren Schrifttum und Abzeichen; Waffenübungen seien verboten.[15]
Zum Aufgabenfeld des Schulleiters gehört, dies durchzusetzen; deswegen hat er jederzeit Zugang zu allen Veranstaltungen – bei siebenundfünfzig für Jugendliche zugelassenen Vereinen sicherlich keine leichte Aufgabe.[16] Entsprechend dieser Regelungen werden Jugendliche im April und Mai 1926 systematisch und schulweise in ihrer Vereinsmitgliedschaft erfasst, wobei die Naturfreundejugend in diesen umfassenden Listen an keiner Stelle mehr auftaucht.
In einem weiteren Brief der Stadtschulbehörde wird der rechtliche Begriff „politischer Verein“ auf die konkreten Umstände hin diskutiert. Arbeitersportler und Kinderfreunde gelten als unproblematisch, Gewerkschaftsjugend und Falken als gerade noch akzeptabel. Die Mitgliedschaft Jugendlicher im sozialdemokratischen Reichbanner dagegen berechtigt – in absurder Parallele zur in der Nachfolge der verbotenen NSdAP stehenden „völkischen Jugend“ bzw. Hitlerjugend – zum Ausschluss vom Unterricht an Fortbildungsschulen. Bezüglich der Naturfreunde ist die Stellungnahme unklar; entsprechend einer – nicht im Akt befindlichen – kultusministeriellen Entschließung vom 27.5.1925 (Nr. III 22906) scheint man den Verband nicht als „politisch“ in diesem Sinne einschätzen zu wollen.[17] Ähnliches folgert die Regierung der Oberpfalz und Regensburgs in einer Stellungnahme vom 23. November 1925:
Die Frage, ob der Verein [die Naturfreunde] allgemein als politischer Verein zu erachten und demgemäß den Schülern die Teilnahme zu versagen sei, könne nicht ohne weiteres bejaht werden, da die satzungsgemäße Hauptaufgabe des Vereins darin bestehe, Naturkenntnisse zu vermitteln und Liebe zur Natur zu erwecken. Vielmehr werde ihre Beantwortung von den Umständen des Einzelfalls abhängig zu machen sein. Den Ortsgruppen, bei denen die Garantie dafür bestehe, daß die Schüler nicht in einer der Erziehungsarbeit der Schule entgegenwirkenden Weise politisch beeinflußt und die darauf abzielenden Genehmigungsbedingungen eingehalten würden, werde die Aufnahme von Schülern wohl gestattet werden können.
4. Die (partei-)politische Dimension
Sicherlich stand die (durch die in Folge des Verbots verloren gegangenen Dokumente nicht mehr im Einzelnen belegbare) Praxis der Naturfreunde in den 1920er Jahren im Widerspruch zu konservativen Wertvorstellungen. Als Verband der Arbeiterbewegung und als Breitensportverband teilten sie eine positivere Sicht von Körperlichkeit, war das Physische doch zentrale Quelle von Arbeit, Produktivität und Selbstverwirklichung. Sport und körperliche Freiheit wurden in der Arbeiterbewegung seit Anbeginn als Einheit gesehen.[18] Insofern ist der Freiheitswille der Regensburger Naturfreundejugend wohl eine konkrete Ausformung des – im historischen Rückblick oft vergessenen – optimistischen Nonkonformismus, der die 1920er Jahre prägte und gegen konservative Widerstände erprobte, dass „es eine Lust zu leben“ war.[19] Deutlich wird das im Kontrast zu dem, was Berufsschuldirektorin Kronburger als ihr eigenes Ideal beschreibt: „Die sämtlichen Vereine [der konfessionellen Jugendpflege] bieten Mädchen Gelegenheit zu harmloser geselliger Unterhaltung, zur Betätigung des Wander-, Turn- und Schwimmsports ohne die heute vielfach zutage tretenden traurigen Auswirkungen auf sportlichem Gebiete. Es wäre sehr zu begrüßen, daß die Eltern noch zahlreicher als bisher ihre Töchter diesen Vereinen anvertrauen würden, statt sie, wie es leider so oft geschieht, ohne jede Aufsicht und teilweise in sehr zweifelhafter Gesellschaft sonntägliche Ausflüge unternehmen zu lassen.“[20] Im Akt belegt ist in diesem Zusammenhang ein Konflikt mit dem Freien Wassersportverein, in dem Kirchenaustritte eine Rolle spielten und wo eine Schülerin zum Verlassen des Vereins gezwungen wurde.[21]
Die Auseinandersetzung um die Rolle des Körperlichen, und insbesondere um Geschlechterrollen, kulminierte in Regensburg u.a. in der Frage, ob Männer und Frauen gleichzeitig städtische Freibäder besuchen konnten. Diese im Wechsel für je Frauen und Männer zu öffnen lag nicht im Interesse der Familien, die ihre Sonnentage gemeinsam genießen wollten. Dass die Stadt 1923 mit hohen Sichtschutzwänden (für 80.000 RM!) männliche und weibliche Badebereiche trennte, kühlte die Gemüter nicht ab. Gab es doch jenseits der Stadtgrenzen, im Bezirksamt Stadtamhof, gemeinsame Bademöglichkeiten. Die SPD im Stadtrat stellte wiederholt vergeblich den Antrag zur Aufhebung der Geschlechtertrennung. Und die jungen Leute fanden eine eigene praktische Lösung, nämlich das „wilde Baden“ – eben das, was der KJFV auch an der Naturfreundejugend kritisierte. Nahe dem an der Donau gelegenen Gelände des zur Arbeiterbewegung gehörigen Freien TuS eroberten sie sich spontan gemischte Badeplätze, gegen die polizeiliche Aktionen immer wieder ins Leere liefen.[22] Selbst Oberbürgermeister Hipp musste sich dafür vor dem bischöflichen Ordinariat verteidigen. Noch 1931 polemisierte eine Denkschrift der örtlichen Katholischen Jugend zum Verfall der Sitten gegen gemeinsames Baden als „heidnischem Badebolschewismus“.
Im konkreten Fall verzeichnet ZR-I 2607 bis Mitte der 1920er Jahre keine parteipolitischen Reaktionen zur Attacke auf die Naturfreundejugend. Möglicherweise versuchte man seitens der Sozialdemokratie, solch kulturkämpferische Zuspitzung aus dem politischen Tagesgeschäft herauszuhalten und den Eindruck eigener Einseitigkeit zu vermeiden. Eine generelle Zielrichtung auf linke Jugendverbände verneint auch Kronburger. Schon am 11. Dezember 1922 bezeichnet sie die Annahme, dass „die Lehrkräfte der weiblichen Fortbildungsschule den Mitgliedern der Arbeiterjugend und des Zentralverbands den Austritt aus den genannten Vereinigungen zur Pflicht gemacht und bei weiterem Verbleiben mit der Polizei gedroht hätten“, ausdrücklich als „Lüge“.[23]
Konkret allerdings sah das anders aus. So wird zum Beleg für den „politischen“ Charakter der Naturfreunde im Akt verschiedentlich beschrieben, wie Naturfreundejugendliche bei ihren Touren durch das Verteilen von Streikaufrufen und das Tragen roter Fahnen und Wimpel auffielen. Erst diese Beobachtungen lieferten das eher informelle, doch parteipolitisch nutzbare Muster für die folgende parteipolitische Kontroverse, in der KJFV und Naturfreundejugend in den Hintergrund treten.
Auf die enge Verbindung von roten Fahnen und der Missachtung des Eigentums anderer weist hin z.B. ein (dem Akt ohne Briefkopf in maschinenschriftlicher Kopie beiliegender) Brief an den Kreisschulrat bei der Regierung der Oberpfalz vom 4. Juli 1926. Er beschreibt das angebliche Verhalten einer Wandergruppe der Arbeiterjugend Reinhausen am Sonntag, 6. Juni (ganztags). Somit hielte die Tour die Teilnehmer vom Kirchgang ab. Von den etwa 30 Teilnehmern sei ein Drittel weiblich gewesen. „Es wurden Wimpel mitgeführt in der schwarz rot goldenen und in der roten sozialistisch-kommunistischen Farbe.“ Der Diebstahl von Äpfeln und Forellen sowie das illegale Lagern und Baden auf Privatgelände zeige, dass die Jugendlichen „im Zeichen der roten Fahne sich kein Gewissen daraus machen, sich fremdes Eigentum anzueignen und beim Spielen in den Wiesen das lange Gras zusammenzutreten“. Führer sei der Lehrer Ulrich Breindl aus Reinhausen gewesen, der dem keinen Einhalt geboten hätte.
Breindls von der Dienststelle angeforderte Stellungnahme liegt dem Akt bei. Als Leiter der Arbeiterjugend Reinhausen setze er sich für soziale Integration ein. Er bezweifelte zunächst die Zuständigkeit des Stadtrats, da es um einen Verein nicht in der Stadt, sondern im Vorort Reinhausen ging.[24] Zu den Details berichtete er, die angegebenen Zeiten seien falsch; es hätte eine Absprache mit „Beamten“ des Besitzers, eines „Grafen“, gegeben; der Diebstahlversuch sei von der Gruppe selbst verhindert worden; und die Vorkommnisse würden völlig übertrieben – so hätten Jungs und Mädchen in zweihundert Meter Abstand gebadet.
Solches Geplänkel mündete Anfang Juli 1926 in eine nunmehr eindeutig parteipolitische Auseinandersetzung zwischen der sozialdemokratischen Volkswacht und konservativen Blättern, darunter dem Regensburger Stadtanzeiger. Auslöser war eine Stadtratssitzung am 30. Juni, in der im Zusammenhang mit öffentlichen Zuschüssen der Stadtrat der Bayerischen Volkpartei, Studienprofessor W. Prechtl, auch die „ethische Rolle“ der Fortbildungsschulen einforderte und die Leitungen „gewisser“, namentlich nicht benannter Jugendorganisationen angriff. Die Volkswacht kommentierte den Fall am 3. Juli 1926 satirisch als „Konkurrenzneid“ (Abb. 7). Über Regensburg hinaus erhielt der Fall Bedeutung, weil – als Zeitungsausschnitt dem Akt ohne Datum beiliegend – das Magazin Die Gesellschaft: Internationale Revue für Sozialismus und Politik titelte: „Eine klerikale Kampfansage an die Regensburger Turn- und Sportvereine“. Prechtl seinerseits antwortete im konservativen Regensburger Anzeiger vom 9. Juli 1926. Problemregionen seien insbesondere die Arbeiterjugendbewegungen in Regensburg und Reinhausen, der freie TuS und der Wanderverein „Adler und Falken“. Und er ereiferte sich darüber, dass „die Vertreter der Linken im Rathaus […] zu heftigen und unsachlichen Gegenäußerungen“ aufriefen. Im Gegensatz zu den „roten Artikelschreibern“ stünde er auf der Seite von Recht, Ordnung und Sitte: „Worin das Unrecht gegen gewisse Organisationen liegen soll, wenn einmal öffentlich darauf hingewiesen wird, daß sie sich fortgesetzt über bestehende ministerielle Anordnungen hinwegsetzen, ist unerfindlich.“ Ausdrücklich erwähnte er das Verhalten „von organisierten und wilden Wandertrupps“ der „roten Arbeiterjugend“. Er selbst „kenne keine ´mißliebige´, wohl aber eine nach katholischer Auffassung bedauerlicher Weise mißgeleitete Jugend.“ Ohne jede Zurückhaltung schloss er: „Nach links gibt es für uns keine Brücke. Denn Sozialismus und sozialistische Demokratie verträgt sich mit dem Christentum wie Wasser und Feuer.“
Wenige Tage später, in einem umfassenden Anhang zu einem handschriftlichen Brief an den Stadtrat und das Stadtjugendamt vom 15. Juli 1926, lokalisierte er die Schillerwiese im Westen der Stadt (vgl. Abb. 8[25]), den Oberen Wöhrd und den Alten Hafen als besondere Treffpunkte insbesondere Jugendlicher aus den Verbänden der „Arbeiterjugend“, dem „Arbeiterjugendverein Reinhausen“ sowie dem Wanderverein „Adler und Falken“. Wiederum würden hier die Internationale gesungen und rote Wimpel getragen.
Einen überregionalen, aber für den Fall nicht konkreten Kontext schufen zusätzlich die dem Akt beiliegenden Unterlagen zum Verbot kommunistischer Jugendarbeit. Selbst die Jugendorganisationen der SPD schienen denen der Naturfreundejugend zumindest ähnlichen Schikanen ausgesetzt. Allerdings liegt dem Akt auch ein Brief der SPD-Landtagsfraktion an den SPD-Bezirksvorstand vom 15. Dezember 1927 bei. Zum Thema „Behandlung der SAJ durch bayerische Behörden“ akzeptierte die Partei die Rechtslage, in Volksschulen und Fortbildungsschulen die Zugehörigkeit der Jugendlichen (auch) zu sozialistischen und Arbeiterjugendvereinen fallweise prüfen zu lassen. Der Aspekt der Jugendpflege würde in den konkreten Fällen den politischen Gehalt der Jugendarbeit jedoch wesentlich überlagern.
5. Ausblick
Ab Mitte der 1920er Jahre waren die Angriffe des Katholischen Jugendfürsorgevereins auf die Naturfreunde nur mehr Einzelaspekt eines größeren Problems. Für die Gesamtheit der 1920er Jahre fasste sich der KJFV als quasi-öffentliche Einrichtung auf, die um die staatliche und sittliche Ordnung mindestens ebenso besorgt war wie das Wohl seiner unmittelbaren „Schützlinge“. Die Angriffe auf die Naturfreunde und ihre Jugend hatten in ihrer Vermischung fürsorglicher, offiziöser und ideologischer Begründungen ja von Anfang an kulturkämpferischen Charakter. Die beruflichen Fortbildungsschulen – insbesondere ihre weibliche Abteilung – war gleichermaßen sein Werkzeug und eigenständig agierender Teil. Im Rückblick ist das Vorgehen gegen die Regensburger Naturfreundejugend ein früher exemplarischer Versuch, Kulturpolitik auf Kosten eines „vorpolitischen“ gegnerischen Jugendverbands zu betreiben – ideologisch motiviert, aber ohne sich mit der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit anzulegen.
Unmittelbar waren das Ziel die Jugendlichen, die sich Freiheitsräume eroberten, die nicht in ein konservatives Weltbild passten. Institutionell glaubte man, mit den Naturfreunden einen verglichen mit dem organisierten Arbeitersport, den Gewerkschaften und Parteien kleinen Teilverband der Arbeiterbewegung treffen zu können. Dieser Versuch gelang, insofern die Naturfreundejugend als Auslöser im Akt (und aus den Schulen) verschwand. Er misslang, insofern er eine breitere Kontroverse hervorrief, in der der KJFV in der Debatte um freieres, gemeinschaftliches Wandern und eigenständige Jugendarbeit selbst an Bedeutung verlor, bis hin zur Weigerung der Schulverwaltung 1928, weiterhin dessen Fragebögen zu verteilen.
Im Laufe der 1920er Jahre war die gesellschaftliche Praxis offenkundig über das vom KJFV vertretene Weltbild hinweggegangen, und zumindest Teile dessen, wessen die jungen Naturfreunde beschuldigt worden waren, war gesellschaftliche Praxis geworden. Auch die Berufsschulen hatten das anzuerkennen. Für seinen Bestand gefährdend war ein solcher Verlust der Meinungsführerschaft für den KJFV gleichwohl nicht. Während die Naturfreunde von den Nazis wie alle anderen aus der Arbeiterbewegung stammenden Verbände 1933 verboten wurden, wirkte der KJFV trotz weltanschaulicher Differenzen und dem Einfrieren öffentlicher Zuschüsse im „Dritten Reich“ weiter. Dafür steht u.a. die personelle Kontinuität – von 1928 bis 1970 – ihres Direktors Michael Thaller. Verschoben hat sich in die Gegenwart hinein die Aufgabenstellung, weg von der „Anstaltsverwahrung“ als wesentlichem Vereinszweck, hin zur individuellen Förderung Benachteiligter. Die heutige Katholische Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e.V. (KJF) ist ein Sozialkonzern von etwa 3500 Angestellten und bezieht sich bei aller religiös-katholischen Bindung auf ein weniger eindimensionales weltanschaulich-politisches Selbstverständnis.[26]
In den restaurativen 1950er Jahren[27] ist auch in Regensburg belegbar, dass der katholischen Kirche nahestehende Vereine weiterhin Druck auf die wieder gegründeten Naturfreunde ausgeübt haben.[28] Inwieweit konkret die neue KJF daran teil hatte, ist nicht belegt. Über den früher so engen Zugang zu den Berufsschulen dürften sie, zumindest im obigen Sinne, kaum mehr verfügt haben. Deutlichere Entspannung der Beziehungen zwischen katholischen Organisationen und den Naturfreunden/NaturFreunden gab es vor Ort erst später, wohl auch, weil sich die ideologischen Lager tendenziell nicht mehr in dem Maße getrennt sahen wie (oder zumindest etwas durchlässiger wurden als) noch in den 1920er und 1950er Jahren. Die Liberalisierung der Lebensstile seit Mitte der 1960er Jahre tat in dieser Hinsicht ein Übriges. Doch selbst im Alltagsgespräch heute sind bei aller Verschwommenheit die alten weltanschaulichen Grenzziehungen keineswegs verschwunden – und gerade das schreibt dem hier diskutierten Konflikt noch immer ein Quantum Aktualität zu.
Dr. Klaus-Dieter Groß
Eichendorffstraße 3a
D-93051 Regensburg
dieter.gross@naturfreunde-bayern.de
[1] Abgedruckt in Hildegard Ziegler-Schultes (Bearb.). Entweder – Oder! Arbeiterbewegung in Landshut: Dokumente zu ihrer Geschichte. Kösching: 3K-Verlag, 1987. 106-107.
[2] Vgl. Bruno Klaus Lampasiak, Leo Gruber, Manfred Pils. Berg frei – Mensch frei – Welt frei! Eine Chronik der internationalen Naturfreundebewegung von den Anfängen der Arbeiterbewegung bis zum Zeitalter der Globalisierung (1895-2005). Wien: Naturfreunde Internationale, 2. Aufl. 2009; Klaus-Dieter Groß. „´Berg frei, Mensch frei, Welt frei`: Hundert Jahre NaturFreunde in Regensburg.“ Regensburger Almanach 2009. Regensburg: MZ-Verlag, 2009, 144-152.
[3] Vgl. dazu (z.B.) die sozialdemokratische Tageszeitung Volkswacht vom 22. Februar 1921.
[4] Vgl. Schulverwaltungsamt der Stadt Regensburg. 100 Jahre berufliche Schulen in Regensburg, 1903-2003. Regensburg: Schulverwaltungsamt, 2003. 14-25; vgl. auch Stadtarchiv ZR-I 2445 und 2781.
[5] Dazu Paul Mai. „75 Jahre Katholischer Jugendfürsorgeverein im Bistum Regensburg. In: 75 Jahre Katholische Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e.V., Regensburg: Katholische Jugendfürsorge, 1987, 20-48. Dazu auch Josef Schweiger. „Dem großen Fest entgegen: Die KJF feiert 100. Geburtstag“. In: Katholische Jugendfürsorge Regensburg. Aktion Kontakte 2 (2011): 6-9.
[6] Zit. bei Schweiger. „Dem großen Fest entgegen“. S. 35.
[7] „Jahresberichte 1920-28“, in: Stadtarchiv ZR-I 1929.
[8] KJFV Rechenschaftsbericht 1.8.1923-31.7.1924, S. 2, in: ZR-I 2781.
[9] Nordbayerischen Wanderer, Januar 1925, S. 71.
[10] Der Begriff „Zentralverband“ bleibt ungeklärt, abgesehen davon, dass an verschiedenen Stellen im Akt der „Zentralverband der Angestellten“ und seine Jugendgruppe bzw. der „Zentralverband der weiblichen Angestellten“ genannt wird.
[11] Weitere Details werden zur Jugendgruppe „Wanderlust“ genannt.
[12] In: ZR-1 1929.
[13] Zum „Bauerntheater“ ist anzumerken, dass es wegen seiner Derbheit und kritischer Anspielungen im Fokus der Sittenwächter stand. Es war für Jugendliche tabu und wurde polizeilich im Sinne des Jugendschutzes überwacht. In den Akten spielt sein Besuch eine erhebliche Rolle.
[14] Dem Akt beigelegt ist die „Disziplinarordnung der Städtischen Knabenfortbildungsschule in Regensburg“ vom 24. April 1911 (!):
„§ 23
Außerdem ist den Schülern verboten:
a) die Mitgliedschaft bei politischen Vereinen und die Teilnahme an den Versammlungen solcher Vereine sowie an sonstigen Versammlungen; (zum Eintritt in einen anderen Verein ist die Genehmigung des Oberlehrers notwendig; diese kann ohne Angabe eines Grundes versagt und jederzeit widerrufen werden);
[…]
f) alles, was im bürgerlichen Leben durch Sitte und Anstand oder behördliche Anordnung untersagt ist.“
Nicht nur stammt diese Formulierung aus der vordemokratischen Kronprinzenzeit, sie ist ganz deutlich von staatsautoritärem Denken geprägt.
[15] Schulanzeiger 14 (26.XI.1924) S. 70, in: ZR-I 2607.
[16] Um die Zahl betroffener Vereine entspinnt sich eine Kontroverse zwischen Schulamt und Schulleiter Six, die ihn ein weiteres Mal als kritischeren Geist als seine Kollegin Kronburger auszeichnet. Six beschwert sich mit Schreiben vom 1. Juli 1926 beim Stadtmagistrat über die sich aus der Überprüfung zur Vereinsmitgliedschaft ergebende Belastung. OB Hipp antwortet am 25. Juli 1925, Six läge nicht richtig in seiner Beschreibung der Aufgabe, denn von diesen 57 Vereinen scheiden „ohne weiteres die gesamten unter geistlicher Führung stehenden Vereine aus.“ Zudem gäbe es Kleinvereine, die nicht ins Gewicht fallen würden. Jedenfalls ist auch diese Antwort eine, die die Schulaufsicht als keineswegs tendenzfrei kennzeichnet.
[17] Der Wortlaut des fraglichen ministeriellen Schreibens ist leider weder im bayerischen Kultusministerium noch im Bayerischen Hauptstaatsarchiv noch im Regensburger Staatsarchiv verfügbar.
[18] Dazu allgemein z.B. Dieter Kramer. “Arbeiter als Touristen: Ein Privileg wird gebrochen“ in: Jochen Zimmer Hrsg. Mit uns zieht die neue Zeit: Die Naturfreunde. Zur Geschichte eines alternativen Verbandes in der Arbeiterkulturbewegung. Köln: Pahl-Rugenstein Verlag, 1984. 31-65.
[19] Vgl. Eginhard König. „Die Weimarer Republik im kollektiven Gedächtnis“. In: Kunst und Gewerbeverein Regensburg e.V. Es ist eine Lust zu leben! Die 20er Jahre in Regensburg. Regensburg: Dr. Peter Morsbach Verlag, 2009. 18-25.
[20] „Jahresberichte 1927-28“, in: ZR-I 1929.
[21] Die Reaktion der Verbände des Arbeitersports hierauf ist im Akt indirekt vermerkt. Kronburger berichtet in einem Schreiben an den Stadtrat vom 18.2.1927 über das in ihren Augen großenteils unverschämte Auftreten des Vertreters der freien Sportvereine, Mittermeier, anlässlich einer diesbezüglichen Beschwerde. An dessen Aussage erinnert sie sich so: „Wir haben die Knechtung jetzt endlich satt, wie sie in Regensburg ausgeübt wird, wo man auf die freien Vereine mit den Füßen herumtrampelt! Wir werden nun Massenaustritte aus den Kirchen organisieren!“
[22] Vgl. Eginhard König / Ulrich Hagedorn. „Politische Entwicklungen“. In: Es ist eine Lust zu leben! 28-45, v.a. 40-42.
[23] In der Frage nach den Geschlechterkontakten betrafen Beobachtungen aus dem Akt überwiegend, aber nicht allein Organisationen der Linken. So liegt ihm eine mit Foto belegte Eingabe vom 11. Mai 1926 gegen den traditionellen Turnverein 1861 bei, wo fünf Jungen einem Mädchen beim Barrenturnen zusehen.
[24] Dieser Vorort mit seiner traditionell starken Arbeiterbewegung war erst 1924 eingemeindet worden; es gab eine aktive Sektion der örtlichen Naturfreunde, die kurzfristig plante, als Ortsgruppe eigenständig zu werden.
[25] Das Foto zeigt Arbeiterjugendliche um 1930 auf der Donau, wohl in der Nähe des Geländes des Freien TuS. Ob es sich um Naturfreundejugendliche handelt, ist nicht mehr festzustellen – es entstammt der Bildersammlung, die der Gewerkschafter, Sozialdemokrat, Naturfreund und spätere Bürgermeister Regensburgs, Hans Weber, seiner Naturfreunde-Ortsgruppe hinterlassen hat.
[26] Bis heute entspricht die Struktur des Vereins trotz eines großen Finanzierungsanteils durch staatliche Stellen keineswegs demokratischen Prinzipien. Der örtliche Bischof verfügt über weitgehendes Weisungsrecht. In arbeitsrechtlicher Hinsicht fasst man sich gemäß kirchlichem Selbstverständnis auf als „Dienstgemeinschaft“ mit beschränkten Rechten der Arbeitnehmer. Zu Letzterem vgl. Hermann Lührs. „Kirchliche Dienstgemeinschaft. Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs.“ In: Kirche und Recht 2 (2007): 220-246.
[27] Vgl. hierzu exemplarisch Klaus Heilmeier. „Kino und Film im Regensburg der Fünfzigerjahre“. In: Martin Dallmeier, Hermann Reidel, Eugen Trapp (Hrsg.). Die Fünfzigerjahre in Regensburg: Architektur – Denkmalspflege – Geschichte – Kunst. Regensburg: Universitätsverlag Regensburg, 2004. 111-115.
[28] Dieser Aspekt soll in absehbarer Zeit ebenfalls an dieser Stelle untersucht werden.